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DVM U20 2009 in Chemnitz

Wir kennen es alle – am zweiten Weihnachts­feiertag hat man nach einer aufregenden Ad­ventszeit und umfänglichen Weihnachtsfestivi­täten einen kleinen Durchhänger. Man ist ein­fach platt. Was liegt da näher als nach ein we­nig Entspannung zu suchen – oder wie man es heutzutage nennt - „Wellness“ zu machen? Der eine favorisiert einen entspannten Saunagang, eine Hot-Stone Massage oder ein Bad in Eselsmilch. Es gibt jedoch noch viel einfa­chere, aber nicht weniger wirksame Methoden, Körper und Seele in Gleichklang zu bringen. Dazu zählt, und das sei hier als Geheimtipp verraten, auch das Bahnfahren. „Sänk you for träffeling with Deutsche Bahn?“ – Ja, genau das, eine Fahrt durch traumhaft eingeschneite Winterlandschaften, beim Blick aus dem Fenster das kecke Eichhörnchen beobachtend, wie es prüft, ob sich zwischen den Schnee- und Eiskristallen noch eine kleine Nuss anfin­det, die es in sein Winterquartier verschaffen kann ,und natürlich die mit der Harmonielehre im Einklang stehenden Kadenzen, welche so prägend für die wohlklingenden Bremsgeräu­sche sind, wenn der Zug in den nächsten ihn bereits sehnsüchtig erwartenden Bahnhof ein­fährt. Kurzum, Bahnfahren kann schon sehr schön sein.

 

Das wusste auch unser Mannschaftführer der JBL, Arne Bracker und hat uns für den zweiten Weihnachtstag Bahntickets von Hamburg ins das beschauliche, im Freistaat Sachsen bele­gene  Chemnitz besorgt, um den HSK bei der DVM U20 2009 zu vertreten. Und weil auch bei einer Entspannungsmassage niemand wirklich möchte, dass das Ganze bereits nach wenigen Minuten vorbei ist – seien wir ehrlich, kann man das nicht den ganzen Tag genießen? – haben wir uns mit der Fahrt Zeit gelassen, und zwar sehr viel Zeit. Eben so viel Zeit, wie man benö­tigt, um den ganzen Stress hinter sich zu las­sen und emotional mal so richtig loslassen zu können. Gut, in den weit über neun Stunden, die wir für die Strecke benötigten, hätten wir laut Internetauskunft der Deutschen Bahn auch wahlweise Wien, Zürich oder Warschau errei­chen können, ganz zu schweigen von einer Fahrt nach Paris, die uns dann immer noch ausreichend Zeit für einen entspannten Milch­kaffee auf dem Eiffelturm gelassen hätte. Es ging aber eben gerade nicht darum, sein Ziel möglichst schnell zu erreichen, sondern sich, wie bereits beschrieben, auch Zeit für die lei­sen Zwischentöne des so schnell dahinziehen­den Alltags zu nehmen.

 

Da war es natürlich nur passend, dass wir nach vielen Stunden Bahnfahrt und unzähligen Umsteigeaufenthalten das Wellnesshotel Penta erreichten, das zugleich als Unterkunfts- und Spielort für die Meisterschaft fungierte. Das Hotel bot mit Sicherheit die angenehmsten Bedingungen, unter denen eine DVM U20 seit langer Zeit ausgetragen wurde. Die Zimmer waren ganz überwiegend als Maisonette-Appartements eingerichtet, in denen zwei bis drei Spieler Platz fanden. Praktisch, dass die Appartements über zwei Fernseher verfügten – so konnte kaum Streit über das abendliche Fernsehprogramm aufkommen. Dafür hatte der Veranstalter am Essen gespart. Während das Frühstücksbuffet noch hervorragend war, bekamen die Schachspieler zum Mittag und Abendessen im Unterschied zu den anderen Gästen eine Verpflegung aufgetischt, die von amnesty international sicherlich als valider Fluchtgrund eingestuft worden wäre.

 

Kurios wurde das Ganze jedoch erst, als sich nach drei gespielten Runden herausstellte, dass das Hotel etliche Zimmer überbucht hatte und der Ausrichter USG Chemnitz in der Folge als Vermittler versuchte, einige der Teams da­von zu überzeugen, dass ein Umzug ins nahe­gelegene  Mercure-Hotel ein ganz großer Spaß wäre, den man sich eigentlich nicht entgehen lassen dürfte. Als Gegenleistung für die damit verbundenen Umstände lockte das Hotel mit einem kostenfreien Wochenende im Penta-Hotel Gera. Da aber nun niemand nach Gera wollte, geschweige denn überhaupt vom Um­zug ins Mercure-Hotel begeistert war, drohte der Ausrichter den letztplatzierten Jungend­mannschaften einen Zwangsumzug an, um somit für zusätzliche Motivation vor der vierten Runde zu sorgen. Schließlich fanden sich of­fenbar doch noch ausreichend Freiwillige, die sich ein Wellnesswochenende in Gera nicht entgehen lassen wollten und sich vom Angebot eines Shuttle-Service zwischen dem Mercure-Hotel und dem Pentahotel überzeugen ließen. Pech nur, dass im Mercure-Hotel in der letzten Nacht ein Feueralarm ausgelöst wurde, doch dies ist eine andere Geschichte ...

 

Die Schilderung derartiger Kuriositäten soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass in Chemnitz auch Schach gespielt wurde. Unser Team ging als Favorit ins Rennen, ließ aber insbesondere durch wechselhaftes Spiel nichts unversucht, um von den Gegnern doch noch unterschätzt zu werden. Nach einem unnötigen 3-3 gegen den SC Dillingen in der dritten Runde kam es in der vierten Runde gegen den großen Konkurrenten, die SG Bochum, zum (vermeintlichen) Showdown, der leider eben­falls wieder mit einem Unentschieden endete. Da die Bochumer bis dahin verlustpunktfrei waren, schien die Meisterschaft damit bereits verspielt. In ausweglosen Situationen ist jedes Mittel recht und so wurde den Schachfreunden aus Neuberg für einen Sieg in der fünften Runde gegen Bochum ein Kasten Bier ver­sprochen. Das wirkte Wunder, zumindest aber als antizipiertes Doping und beflügelte die Neuberger zu einem verdienten 4:2 Sieg gegen unseren Hauptkonkurrenten, wonach die Welt wieder in Ordnung war. Der Rest war mehr oder weniger Formsache und führte zum Gewinn der Meisterschaft vor dem Titelvertediger, der SG Bochum, und dem FSV Großenseebach aus Bayern.

 

Angesichts des Titelgewinns treten die Einzel­ergebnisse natürlich in den Hintergrund. An dieser Stelle sei erwähnt, dass alle außer Jonas Lampert so großzügig waren, sich als Preis für den Titelgewinn von einigen DWZ-Punkten zu verabschieden. Die Einzelergeb­nisse stellten sich wie folgt dar:

 

Niclas Huschenbeth:  4 ½ aus 7

Jonathan Carlstedt:    4 ½ aus 6

Frank Bracker:           3 aus 6

Arne Bracker:             3 aus 6

Malte Colpe:               3 ½ aus 6

Jonas Lampert:          4 ½ aus 6

Harout Dalakian:        4 aus 5

 

Im Folgenden sollen zwei Partien veranschau­lichen, dass meist kämpferisches Schach ge­spielt wurde, ohne jedoch von einer allzu auf­dringlichen Perfektion geprägt zu sein. Dies macht die Protagonisten menschlich, und was kann es Schöneres geben als menschliche Sieger in Zeiten von Rybka, Fritz und Schred­der?

 

Hobusch,Alexander (2170) - Bracker,Arne (2177)

DVM U20 Chemnitz (4.4), 28.12.2009

1.d4 Sf6 2.Sf3 g6 3.c4 Lg7 4.Sc3 0–0 5.e4 d6 6.Le2 e5 7.Le3 Sg4 8.Lg5 f6 9.Lc1 Sc6 10.d5 Sd4 Der erste interessante Moment. Arne wählt eine scharfe, relativ neue Fortsetzung und zeigt, dass er Lust auf eine interessante Partie hat. In der Folge wird es vor allem da­rum gehen, wer die kreativeren Ideen entwi­ckelt und die Varianten konkreter berechnen kann. [10...Se7 ist der meistgespielte Zug in dieser Stellung] 11.Sxd4 exd4 12.Sb5 [12.Dxd4 f5 13.Dd1 fxe4 14.Lxg4 Dh4 15.Le2 Lxc3+ 16.bxc3 Dxf2+ 17.Kd2 Lg4 brachte Schwarz in der Partie L´Ami-Nisipeanu in Vorteil.] 12...f5 13.exf5?! [13.0–0 Se5 14.exf5 d3 15.Lxd3 Sxd3 16.Dxd3 Lxf5 verschafft Schwarz Kompensation für den geopferten Bauern; 13.Sxd4 fxe4 14.Lxg4 Dh4µ] 13...a6! eine Verbesserung gegenüber dem bisher gespielten [13...Se5 14.Sxd4 gxf5 15.0–0 f4 16.Te1 Df6 wonach die schwarze Kompensa­tion weniger klar ist] 14.Lxg4 [14.Sxd4? Sxf2 15.Kxf2 Dh4+] 14...axb5 15.cxb5 De8+ [15...Lxf5 16.0–0 (16.Lxf5 Txf5) 16...Dd7 17.Lxf5 Txf5 18.a4 Txd5 19.Db3 Df7 bringt Schwarz in Vorteil; 15...Te8+ Das sieht auf den ersten Blick etwas unlogisch aus, da der Turm auf f8 gut stand, doch immerhin wird der weiße König so in der Mitte festgehalten 16.Kf1 (16.Le2 De7 17.fxg6 Lg4 18.gxh7+ Kh8 19.f3 Lf5 20.Kf2 d3 21.Lxd3 Ld4+–+) 16...De7 und die schwarze Kompensation wiegt den Bauern mehr als auf.] 16.Le2 Lxf5 17.0–0 Le4 18.Lc4 Df7 19.Db3

Dies ist die kritische Stellung der Partie. Schwarz verfügt über die Initiative und muss sein Glück im Königsangriff suchen. Leider spielt Arne zu schematisch. 19...Tae8? [19...d3! sperrt die weiße Dame aus, so dass nun Opfer auf g2 in Betracht kommen 20.Le3 (20.f3? Ld4+ 21.Kh1 Dxf3! 22.Txf3 Txf3 23.Lg5 Tf2 mit schwarzem Gewinn; 20.Lxd3 Lxd5µ) 20...Lxg2 21.Kxg2 Df3+ 22.Kg1 Le5 23.Dxd3 (23.Dd1 Dh3) 23...Lxh2+ 24.Kxh2 Dh5+ 25.Kg2 Dg4+ 26.Kh2 Tf3 führt wiederum zu einer schnellen weißen Niederlage; 19...Df5 nicht so spektakulär wie d2-d3 aber die schwarze Kompensation ist so unbestreitbar  20.Ld2 (20.f3 Lc2 21.Db4 Ta4 zeigt, dass die schwarze Dame nicht besonders sicher steht.) 20...Lc2 21.Dg3 d3 mit guter Kompensation] 20.f3! d3 21.Le3 Lf5 22.Lf2 Te2 23.Tab1 Tfe8 [23...Txf2 24.Txf2 Ld4 25.Lxd3 De7 26.Tbf1±; 23...Td2 24.Le1 Te2 25.Lxd3 Te3 26.Td1 führt ebenfalls zu weißem Vorteil] 24.Lxd3 Lxd3 [24...Td2 25.Lxf5 Dxf5 dürfte etwas genauer sein] 25.Dxd3 Lxb2 26.Tfe1 De7 27.Txe2 Dxe2 28.Db3 Le5 29.Te1 Dd2 30.Dc4? [30.Kf1!] 30...Tf8 [30...Lxh2+ 31.Kxh2 Txe1 32.Lxe1 Dxe1= führt zu einfachem Ausgleich. Beide Spieler waren hier bereits in Zeitnot.] 31.Te2 Dd1+ 32.Te1 Dd2 33.h3 Tf7 34.Te2 Dd1+ 35.Te1 Dd2 36.Te2 Dd1+ 37.Te1 Der beste Zug wäre nun gewesen, mit Dd2 Remis wegen dreifacher Stellungswiederholung zu reklamieren. 37...Dd2 38.a4 Kg7 39.Kf1 Da5?? Das ist ganz katastrophal, denn die Dame ist die denkbar schlechteste Blockade­figur. Weiß hat nun leichtes Spiel, indem er seine Figuren zentralisiert. [39...b6²] 40.Ld4 Tf4? [40...Dd2 41.Lxe5+ dxe5 42.Txe5 b6 bringt allerdings auch keinen Spaß aus schwarzer Sicht.] 41.Txe5 Txd4 42.Te7+ Kf8 43.Dxd4 Kxe7 44.Dg7+ Kd8 45.Df8+ Kd7 46.Df7+ Kd8 47.Dg8+ Kd7 48.Dg7+ Kd8 49.Dh8+ Ke7 50.Dxh7+ Kf6 51.Dh4+ Kf7 52.Df4+ Ke7 53.De4+ Kf7 54.Df4+ Ke7 55.Dd4 Kf7 56.Kf2 Da8 57.h4 b6 58.g4 Dd8 59.Kg3 De8 60.De4 zeigt, dass die schwarze Dame nicht besonders sicher steht. 1–0

 

 

Carlstedt,Jonathan (2313) - Lock,Adrian (1937)

DVM U20 Chemnitz (1.2), 27.12.2009

1.c4 e6 2.g3 d5 3.Lg2 dxc4 4.Da4+ Sd7 5.Dxc4 c5 6.Sf3 Sgf6 7.0–0 In diesem Abspiel des angenommenen Reti-Komplexes hat Weiß rein gar nichts vorzuweisen außer freiem Spiel. Eröffnungsvorteil ist nicht in Sicht, wie unzäh­lige Partien bewiesen haben. 7...b6 [7...a6 ist eine brauchbare Alternative] 8.d4 Lb7 9.Sc3 a6 10.a4 Le7?! [10...Tc8] 11.Td1 0–0 12.dxc5 bxc5?! Hiernach verfügt Weiß dank des schwachen schwarzen c-Bauern über einigen Positionsvorteil. [12...Lxc5 13.Lg5 De7=] 13.a5 Dc8 14.e4 Lc6 15.Le3 [15.Lf4! hätte den Par­tiezug verhindert] 15...Tb8 16.Td2 Tb4 17.Dd3 Td8 18.Tad1

Weiß stellt dem Gegner eine Falle, in die dieser prompt hineintappt. 18...Sxe4? [18...Db7! 19.De2 Tc8= (19...Sxe4? 20.Se5) ; 18...Lxe4!? 19.Sxe4 Sxe4 20.Se5 Sxd2 21.Sc6 Te8 und es ist nicht klar, ob Weiß hier etwas Besonderes hat. (21...Dxc6 22.Lxc6 Se5) 22.Txd2 Sf6] 19.Se5 Td4?? [19...f5 20.Sxc6 Dxc6 21.Sxe4 fxe4 22.Dc2 mit leichtem weißen Vorteil] 20.Sxc6 Txd3 21.Sxe7+ Kf8 22.Sxc8 Sxd2 23.Le4 Txc3 24.Txd2 Tc1+ 25.Kg2 Txc8 26.Txd7 Der Rest ist leicht. 26...Ta1 27.Lb7 Tb8 28.Lxc5+ Kg8 29.b4 1–0

 

Stefan Sievers

 

Der Klub dankt Stefan Sievers für sein Coa­ching, fortgesetzt bis in die kritischen Analysen zweier Partien – ein guter Trainer wählt eben nicht nur Gewinnpartien aus –, und für seinen herrlichen Bericht, der geradezu literarischen Genuss ermöglicht. Zum Schluss zitieren wir den Blog http://die-schachklapse.blogspot.com/ von Kevin Högy, der mit seinen Schach-freun­den Neuberg aus Hessen in Chemnitz knapp an den Medaillen vorbei schrammte und Vierter wurde, um mit ihm unserem Team noch einmal zu gratulieren: zum zweiten Titel in den letzten vier Jahren bei zwei weiteren Vizemeister­schaften:  „… liebe Grüße und Glückwünsche an die Spieler des Hamburger SK. Den Meis­tertitel habt ihr euch verdient! Gratulation an Niclas, Jonathan, Frank, Arne, Malte, Jonas und Haroutioun zum Gewinn der Meisterschaft U20 in Chemnitz.“



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