Halb Sieben warten unten schon Andreas und Liliana. Oben sei noch niemand, sagen sie. Mit dem Selbstbewusstsein desjenigen, der hier schon oft gespielt hat, bedeute ich ihnen, mir einfach zu folgen. Doch dann ein leises Gefühl der Panik. Alles ist dunkel. Inzwischen sind wir schon zu fünft. Doch dann naht die rettende Aufklärung: Der gastgebende Verein lässt es lediglich ruhiger angehen und muss ja beim Aufbauen auch nicht wie wir Mannschaftsführer bei unseren Freitagsspielen im Clubheim die Ellenbögen ausfahren und eine Stunde vor Spielbeginn aktiv werden. Da es für nur zwei Gastgeber-Spieler zu viel ist, helfen wir gerne bei der Bestückung der Bretter. Irgendwann erhalte ich die gegnerische Mannschaftsaufstellung, und dann kann es auch schon losgehen. Zum Glück trudeln kurze Zeit nach Rundenbeginn auch schon Marianne und Wilhelm ein. Ich kann mich voll auf mein Spiel konzentrieren.
Andreas sorgt an Brett 7 für einen Start unseres Teams, der hoffen lässt, zumal ich selbst mit meinem geschlossenen Aufbau gegen Sizilianisch schon schnell Raum gewonnen habe. Andreas hat die Giuoco piano (nicht pianissimo mit c3, d3)-Variante im Italiener auf dem Brett, wo Weiß c3 und d4 spielt und Schwarz schnell nach exd4 und weißem cxd4 Lb4+ spielt und auf d2 seinen Läufer abtauscht und Schwarz d5 spielen muss, was in der Regel nach weißem exd5 und schwarzem Nehmen auf d5 mit dem Springer mit Remis durch weiße Zugwiederholung mit endlosem Db3, Sa5 und Da4+ endet. Nicht so Andreas´ Gegner, er deckt den Lb4 mit De7. Andreas zieht den Zug, der noch mutiger (und besser) als die vorsichtige Rochade ist: e4-e5, was Schwarz sofort einengt. Nun hätte Schwarz seinen Springer sofort nach e4 ziehen oder aber den hier typischen Doppelschritt d7-d5 ausführen müssen, um seinem Springer das Fluchtfeld d7 zu verschaffen, aber auch, um langfristig weißes d5 zu verhindern. Nach beiderseitigen Rochaden zieht Schwarz seinen Springer jedoch nach e8 (siehe Diagramm). Rettet er ihn damit? Oder muss er nach Andreas´ nächstem Zug (dem zehnten in der Partie) vielleicht wieder zurück, um eine wertvollere Figur mit seinem Leben schützen?
Schwarz entschließt sich nach seinem Springerverlust, seine Dame nach d6 zu stellen statt nach e8. Doch dort ist sie auch nicht sicher. Schwarz entgeht zwar später der Gabelwirkung von weißem Sf5 (von h4 aus) mit einem Königszug. Aber das im 17. Zug von Andreas gezogene Sf5 droht ja nicht nur die Gabel, sondern auch eine Einengung der schwarzen Dame, die für sie ebenfalls tödlich ist. Aufgabe und 1:0 für uns um 20.25 Uhr.
Um 21.10 Uhr gewinnt Wilhelm an Brett 4. 2:0, so gut sind wir selten in einen Mannschaftskampf gestartet. Dabei fing es für ihn gar nicht so gut an. Mit seinem mit Schwarz im geschlossenen Sizilianer durchgeführten Springer-Manöver Sg8-e7-g6 verlor er zu viel Zeit und sah sich nach weißem Sg5 im 8. Zug plötzlich mit einem Einschlag auf f7 konfrontiert, den er nur mit einem Bauernverlust (nach Le6) auf e6 verhindern konnte. Weiß wollte allerdings in der Folge lieber seinen Bauern auf c2 durch Lb1 schützen, also seinen Materialvorteil behalten, als ihn auf der Diagonale g8/a2 mit ständigem Drohpotential zu belassen. Im Diagramm – Wilhelm hatte inzwischen ausgeglichen – spielt erneut ein Tempo eine Rolle.
Ja, Lg5-e3 sieht verlockend aus, aber dann hängt ja nach weißem Sxe3 der schwarze f3-Bauer. Das lässt sich mit einem Springerzug, der mit einem Angriff auf eine wertvolle weiße Figur Zeit gewinnt und f3 deckt, verhindern. Welchem?
Im nächsten Diagramm steht Wilhelm besser. Er hat zwei verbundene Freibauern, und sein König fängt den weißen Freibauern leicht ab, wenn Weiß dagegen keine Vorsorge trifft.
Und genau das tat Weiß nicht: Er zog vielmehr seinen Bauern weiter vor, der aber natürlich durch Wilhelms König aufgehalten wurde. Richtig wäre es gewesen, den Turm über Tf8+ hinter den weißen B-Bauern zu stellen und damit auch den schwarzen König abzudrängen. Das hätte erstmal den schwarzen Turm mit zusätzlichen Aufgaben belastet. So hingegen konnte Wilhelm souverän seinen b-Freibauer sogar ohne a-Bauer-Unterstützung zum Sieg verwerten. Sein Turm hatte ja dafür genug Freiheiten, weil er seinem König den weißen e-Freibauern vertrauensvoll überlassen konnte.
Georg hatte an Brett 2 mit Schwarz gegen einen von Weiß nicht konsequent gespielten Katalanen mindestens ausgeglichen und dabei das bestätigt, was Andi uns im Training immer wieder gelehrt hatte: Spiel mit Weiß nach schwarzem c6 nicht so schnell c5, sonst rollt Schwarz sehr wirkungsvoll mit b6 auf. Genau das tat Georg auch, als Weiß schon im 5. Zug gegen diese Regel verstieß. Im 27. Zug hatte er seinen Vorteil ausgebaut und die folgende Schlüsselstellung erreicht:
Georg hat einen Freibauern auf c4 und einen Kandidaten für einen weiteren auf d5, außerdem ist der weiße Bauer auf a4 schwach und in Gefahr verloren zu gehen. Die Versuchung, den Se8 aus der Versenkung nach vorne zu befördern und ihn nach f6 zu stellen und damit auch gleichzeitig auch d5 ein zweites Mal zu decken, war groß, und Georg erlag ihr. Das Spiel verflachte, und da wir mit zwei Punkten führten, war gegen den um 22.00 Uhr erfolgenden Remisschluss nichts einzuwenden. Eine Gewinnstellung hätte hier Lf6 mit Tempogewinn ergeben. Zwar könnte Weiß seinen Läufer dem schwarzen Monster-Läufer mit Lc3 entgegen-setzen. Er kann dann aber gegen das schwarze Sc5 nichts unternehmen. Es ist egal, ob Weiß zwischendurch auf f6 oder d5 nimmt, bevor Schwarz Sb3 zieht, denn Sb3 bedroht ja erst einmal die Dame (wieder ein Tempogewinn!). Sollte Weiß hingegen seinen Läufer nicht auf die lange Diagonale stellen, wer hält dann Georgs Bauern langfristig noch auf? Dame und Turm sind bereits eingeengt und können ihre Stellung nicht ohne schwere Nachteile verändern. Die weiße Dame muss zudem noch den schwachen a-Bauern decken. Die Partie zeigt, wie wichtig es ist, Situationen zu erspüren, in denen die allgemeinen Schachprinzipien (Springerentwicklung) mit den konkreten Chancen der Stellung (quasi doppelter Tempogewinn) konkurrieren.
Ole hatte sich an Brett 5 solide mit Sc3 und d3/e4 aufgebaut, allerdings braucht man in diesen Positionen, in welchen man zunächst auf Druck verzichtet, um seinen eigenen e4-Bauern zu schützen, doch irgendwann einen Plan. Der besteht entweder in f4 mit Aktionen am Königsflügel oder dann doch im Vorrücken des d-Bauern, vor allem, wenn der Gegner, wie auch in diesem Spiel erstmal unterentwickelt ist, ja noch nicht einmal rochiert hat.
Mit Oles Df3 im 12. Zug macht Weiß es sich schwer, noch rechtzeitig einem dieser Pläne zu folgen. Allerdings hat Df3 einen Sinn, wenn man es zieht, um für seinen Springer, der insofern schon ideal auf g3 steht, auf f5 einen Stützpunkt mit dem schwarzen König als langfristigem Ziel zu schaffen. Im weiteren Spielverlauf spielte diese durch Df3 geschaffene zusätzliche Option allerdings keine Rolle mehr, Ole verlor mit dem anderen Springer durch die Züge nach a4 und wieder nach c3 zurück wertvolle Zeit. Der Gegner eroberte sich die d-Linie für seinen Turm, eroberte zwei von Oles Bauern und nutzte aus, dass sich Oles Springer mangels Raum gegenseitig behinderten. Das bedeutete wenige Minuten nach Georgs Unentschieden unseren ersten Punktverlust.
Wenig später tat sich an meinem Brett etwas. Den oben erwähnten Raumvorteil hatte ich zu nichts Brauchbarem verwerten können. Die f-Linie war offen, aber sonst blockierten sich überall die Bauern gegenseitig. Schwarz hatte seinen Entwicklungsrückstand aufgeholt und konnte sich um eigene Pläne kümmern. Derartig frustriert entschloss ich mich zu h3 und g4, g5. Mein König stand nun noch luftiger als zu Spielbeginn der schwarze. Seine Dame, Läufer und Turm zielten auf meine Stellung, und es waren schon Opfer auf g4 möglich, wenngleich noch nicht ganz korrekt. Jedenfalls stand Schwarz schon deutlich besser. Im folgenden Diagramm ist klar, dass Schwarz die Ideen Sg4+ nebst später Sf4 hat. Er muss nur die richtige Reihenfolge wählen. Glücklicherweise begann mein Gegner falsch, nämlich mit Sf4, worauf … welcher Zug sofort die Dame gewinnt? 22.20 Uhr stand es 3 ½ zu 1 ½ für uns!
Marianne verlor dann 15 Minuten später leider an Brett 6 gegen Dietrich Krüger, die Umstände der Niederlage sind nicht bekannt, die Gastgeber hatten auf 3 ½ zu 2 ½ aus unserer Sicht verkürzt. Nun lag alles an Peter und Liliana.
Peter hatte an Brett 3 einen ganzen Turm mehr, und sein Gegner war viel knapper in der Zeit. Das Erwartete geschah, und Peter konnte unsere Gratulation zum eigenen und zum Mannschaftssieg entgegennehmen. Wie hatte Peter sich das erarbeitet? Glück war es jedenfalls nicht. Aus einer Art Colle-Aufbau mit b3 war ein kompliziertes Spiel geworden, das sich im dynamischen Gleichgewicht befand. Während Schwarz der weiße Bauer auf e5 ein Dorn im Auge war, hatte Peter Schwächen auf e3 und auf g3 zu verkraften, die durch schwarzes LxSg3 entstanden war. Allerdings war e3 gleichzeitig auch als Stützpunkt auf der offenen d-Linie eine Stärke. Auch nachdem Peter auf e4 einen Bauern gewonnen hatte, war es für ihn nicht leicht, seine Stellung mit dem auf e4 eingeklemmten Turm weiter zu verbessern. Aber er fand in der folgenden Stellung den besten Plan:
Nämlich die Dame nach g3 stellen und damit mit Hilfe des e5-Bauern den Turm unterstützen, der auf d6 auftaucht und sich – besonders nachdem Schwarz später b6 und Peter a5 spielt – nach Bauern-Mahlzeiten in der 6. Reihe umschaut. Dabei die d-Linie immer im Auge behalten (der weiße Turm steht übrigens später auf d4 und vertreibt die schwarze Dame auf der d-Linie, dazu war der e3-Bauer ja gut!). Im nächsten Bild könnte man als Weißer an Züge wie Dd2 denken. Das verhindert schwarzes a5, vermint die d-Linie und droht Turm-Aggressionen auf der 7. Reihe, wenn Schwarz nicht Tb7 spielen will. Oder an h4-h5. Das legt den Königsflügel fest und bietet der Dame einen Hinterhalts-Stützpunkt auf h4, wo sie f6, das allerdings sowieso fragwürdig ist, definitiv verhindert.
Aber wer will es Peter, der sich bei dem Spiel- und Uhrenstand Geduld ja erlauben konnte, verdenken, wenn er für den Gegner mit dem unscheinbaren Zug e3-e4 eine Falle stellt, die sofort ….ja was droht, wenn Schwarz gierig ist? Und Schwarz fiel mit Dxe5 darauf herein. 4 ½ zu 3 ½ !
Peter selbst schreibt dazu (ich habe es erst nach meinem Text gelesen) bescheiden-nüchtern: „In der Anfangsphase hatte ich nach dem Einschlag von Schwarz mit 10. Lxg3 11. fxg3 Probleme, meine Ecke um g3 irgendwie in den Griff zu bekommen, das klappte erst mit der Rochade im 14. Zug und mit Dame e1, was h4 weiter absicherte. Die Flügelöffnung mit a4 und La3 verschaffte mir auch Luft, so dass eigentlich mit dem Abzugs-Schach 40. Td8 und dem Turmgewinn mit Dxb6 alles klar war – wenn Günter nicht noch lange mit Schachgeboten und Remis-Versuchen herumlaboriert hätte.“
Peter war nicht nur vom Spielstand her diesmal der eindeutige Matchwinner. Beide Spieler erlaubten sich bis zu dem o. g. Stellung keine groben Patzer. Peters Spiel überzeugte durch beharrliches Verfolgen eines sinnvollen Plans und als Sahnehäubchen den lohnenden und erfolgreichen Versuch, dem Gegner mit einem unverdächtigen und scheinbar nachlässigen Bauernvorrücken einen Bauern anzubieten, dessen Schlagen sofortigen Turmverlust bedeutet. Ja, auf den zweiten Blick war der Bauernraub vielleicht ein Einsteller, aber eben ein nach viel unermüdlichem Druckspiel von Peter klug provozierter.
Andreas lud mich sofort spontan auf ein ungekühltes Bier aus dem Spielsaal ein. Zusammen mit Dietrich Krüger genossen wir es dennoch. Ich fehlte dann zwar vorübergehend als Mf-Schiedsrichter, aber Lilianas Ergebnis war ja nicht mehr von Bedeutung. Das hieß aber nicht, dass ihr Spiel unintereressant war:
In einer unorthodoxen Eröffnung (b4 e5, Lb2 Sc6) gelang es ihrer Gegnerin zunächst, mit b5 den e5-Bauern zu gewinnen. Sie verschmähte ihn jedoch, bekam aber später Chancen auf mehr, die sie teilweise nutzte. Liliana (Schwarz) musste somit lange Zeit mit einer Figur weniger spielen, blieb aber aufmerksam und kämpfte sich ins Spiel zurück, als Weiß ein Mattbild halluzinierte und einen Läufer Liliana anbot, um ihre Dame von der Grundreihe wegzulocken. Doch Liliana sah, dass es gar kein Matt gab, und schlug ungerührt zu. Das Spiel befand sich nun im Gleichgewicht. Aber in einem, das jeder Zeit verloren gehen konnte. In der folgenden Stellung durfte Liliana h5 nicht zulassen, denn das anschließend drohende Matt war nur durch Bauernverlust mittels g7-g5 und hxg6 e.p. zu verhindern. Doch die Verlockung, auf a5 zu schlagen, war zu groß. Ihre Gegnerin gab aber lieber Schach auf g8 und ließ den weißen König entkommen.
Das war die Zeit, wo wir mit Dietrich das o. g. Bier tranken. Nachdem wir wiederkamen, sah es wenige Minuten später, also etwa 23.30 Uhr, so aus.
Diesmal war Lilianas Gegnerin „blind“ vor Gier und schlug auf b7 mit Schach zu, wonach Liliana nach f2 ging, dann auf h1 Schach gab und Remis anbot (was sie mit Tb1 und Verhindern des Vorrücken) des Bauern auch sicher hätte haben können. Nun. Nach dem Schach auf h1 war der weiße König aber seinem Bauern auf g4 einen gefährlichen Schritt näher und war nicht leicht abzudrängen. Die Gegnerin akzeptierte dennoch. Doch welchen viel besseren und sofort gewinnenden Zug anstelle von Lxb7 hatte Weiß oben bereits übersehen?
5:3 für uns also! Da war es auch nicht weiter schlimm, dass ich wieder einmal erst 1.00 Uhr im Bett war.