Fischbrötchen: vier fuffzig, Bratwurst: vier fuffzig. Der Dom ist unter der Woche eine traurige Veranstaltung. Insbesondere, solange es noch hell ist und die vielen bunten Lichter den Attraktionen keinen künstlichen Glanz verleihen. Vereinzelt Gruppen von Teenagern im Einheitslook – weiße Sneaker, graue Trainingshose, schwarze wattierte Jacke -, die verkrampft lächelnd der Kälte des Hamburger Winters trotzen und einer unverhofften Begegnung mit dem anderen Geschlecht entgegenfiebern. So das höchst subjektive Ergebnis meiner kurzen Inventur auf dem Fußweg zum Millerntor.
Spiele auf St. Pauli sind immer etwas Besonderes, nicht nur für den HSV. Unser heutiger Gegner bietet eine starke siebte Mannschaft auf und ist als Aufstiegsaspirant mit zwei hohen Siegen (mit jeweils 6,5 erzielten Punkten) in die neue Saison der Bezirksliga C gestartet. Für uns geht es darum, unsere gute Form in den Katakomben des Stadions zu bestätigen und uns weiter in der Liga zu behaupten. Für mich selbst beginnt der Abend mit Phantomschmerzen. Eine unserer tragenden Säulen: unser Chronist, Co-Mannschaftsführer und HSK-Urgestein Armin sitzt nicht wie gewohnt neben mir, sondern pult zeitgleich im Sylt-Urlaub Krabben. (Dies entnehme ich später seinem WhatsApp-Status.) Für gewöhnlich gibt mir Armins sibyllinisches Lächeln, das seine Gegner reihenweise zu verunsichern vermag, zusätzliche Sicherheit am Brett – egal, dann muss es heute wohl so gehen! Hinein ins Vergnügen:
In diesem Wettkampf entwickeln sich schnell sehr intensive Partien an allen Brettern. Ein zähes Ringen beginnt. Es ist zu spüren, wie ehrgeizig beide Teams in diese vierte Runde gehen. An Brett 3 spielt John – wie stets mit den weißen Steinen – aktiv und kontrolliert nach vorne. Sein Gegner versucht mit zwei fianchettierten Läufern Druck auf das Zentrum auszuüben. So entsteht rasch ein offener Schlagabtausch. John hat einige Bauern vorgerückt, um seine Stellung zu stützen. Das wird ihm später leider zum Verhängnis. Es gelingt seinem Gegner, ein Schach zu bieten und zugleich einen nicht hinreichend gedeckten Springer anzugreifen. Der Punkt geht an St. Pauli.
Von unseren Brettern 7 (Christian) und 8 (Peter) bekomme ich im laufenden Wettkampf leider keine Details mit. Christian spielt bislang eine starke Saison und bietet seinem Gegner auch heute Paroli. Seine Partie endet mit einem Remis. Ebenso hält Peter seine Partie mit den schwarzen Steinen lange offen, muss sich am Ende jedoch leider geschlagen geben. Unser Captain Sebastian erreicht mit Weiß am 5. Brett ein Endspiel, das ihm Chancen bietet. Beide Kontrahenten spielen noch mit Turm, einer Leichtfigur und Bauern. Sebastian hat eine zusätzliche Leichtfigur, dafür hat sein Gegner zwei Bauern mehr. Einer davon ist ein entfernter Freibauer auf der a-Linie. Die Fortsetzung ist nicht trivial. Und so entscheidet Sebastian schlussendlich in der „crunch time“, in ein Remis gegen seinen starken Gegner einzuwilligen. Mit einem breiten Grinsen erhebt sich mehr oder weniger zeitgleich Elvin an Brett 6 von seinem Stuhl. Er hat seine Partie just gewonnen. Mit dem Rücken zur Wand, wie er uns später erklärt. Sein Gegenüber hat bereits zwei Bauern mehr. Doch es gelingt Elvin, Verwicklungen herbeizuführen und das Spiel taktisch zu entscheiden. „Taktikfuchs“ wird sein Gegner später seinen Mannschaftskameraden anerkennend zuraunen. Ein immens wichtiger Punkt für uns – auf Elvin ist in dieser Spielzeit Verlass, er steht bei bärenstarken drei Punkten bei drei Einsätzen.
Dann allerdings ein Satz wie ein Messerstich von Daviti: „Ups, das habe ich wohl übersehen.“ Und er gibt seine Partie an Brett 2 auf. Das ist schade für uns. Es ist seinem Gegner mit Weiß gelungen, mit einigen Figuren in die schwarze Stellung einzudringen. Doch Daviti ist ein Kämpfer. Clever und mit kühlem Kopf arrangiert er seine Verteidigung. Der weiße Angriff stockt, vielmehr steht Daviti nun im Begriff, eine Gegeninitiative zu entwickeln. Und gerade, als es richtig spannend wird, beendet eine punktuelle Unachtsamkeit die Partie. Es steht nun also 4:2 aus Sicht von St. Pauli.
So leicht ist HSK 12 natürlich nicht aus der Ruhe zu bringen. An Brett 1 spielt ja noch David, der seinen Zunamen („Goldmann“… für alle, die ihn nicht kennen) völlig zu Recht trägt. Früh in der Partie hat er mit Weiß die Königsstellung seines Gegenübers ramponiert. Das entscheidet die Partie nicht direkt, führt gleichwohl zu einem Bauerngewinn für David. Und diesen Vorteil gibt er nun nicht mehr her. David rettet den Mehrbauern ins Endspiel, das er dann mit starker Technik für sich entscheidet. Es steht 3:4 aus unserer Sicht.
Und eine Partie läuft noch. Meine. 🙂 (Wo ist dieser Armin, wenn man ihn braucht?!) In einem abgelehnten Damengambit gelingt es mir zunächst mit Schwarz, den Bauernvorstoß c5 durchzusetzen und einen weißen Zentrumsbauern abzutauschen. In der Folge belauern und beharken wir uns, mein Gegner (Jan) und ich. Objektiv gesehen ist die Stellung wohl ausgeglichen. Auf Grund meines leichten Raumvorteils rechne ich mir in einem möglichen Endspiel noch etwas aus, als Jan in der Zeitnotphase plötzlich…
… mit einem schönen Ablenkungsopfer aufwartet. Konsterniert starre ich auf’s Brett. Irgendwie ist es offensichtlich, und doch trifft es mich – zu meinem Leidwesen – unerwartet. Jan gewinnt den temporär gegebenen Läufer mit Zinsen zurück und startet mit Dame, Turm und Springer einen starken Angriff. Jan hätte den Sieg nun verdient und will den Gewinn forcieren. Er schiebt einen Bauern nach vorne, um den Schutz um meinen König herum aufzubrechen. Es gibt nur einen Strohhalm: seine Zeitnot… und ich greife zu. Für seine letzten drei Züge bis zur Zeitkontrolle hat Jan etwas mehr als eine Minute übrig. Schon schiebt er den nächsten Bauern nach vorne. Doch dieser ist nur scheinbar von einem weiteren Bauern, der gefesselt ist, gedeckt. Ich kann ersteren also mit meiner Dame nehmen. Für Jan tut es mir jetzt etwas leid. Zwischenzeitlich habe ich nicht nur zwei Bauern gewonnen. Viel schlimmer für ihn: Die Öffnung der Stellung führt zu einer forcierten Kombination, und im 43. Zug kann ich so, sehr zur Freude meiner Mannschaftskameraden, seinen am Brettrand eingeklemmten König mit meinem Turm mattsetzen. Es steht 4:4.
Fazit: Wir spielen mit, wir stellen Beinchen. Im Vergleich zu früheren Jahren haben wir mit dem Abstiegskampf in unserer Klasse in dieser Saison nichts zu tun. Unsere Mannschaft ist weiter gereift, jeder kämpft für das Team. Und wir haben eine gute Mischung aus jungen Spielern und dem „harten Kern“, der schon länger zusammenspielt.
Dank geht an John und seine Eltern, die für Spiele unserer Mannschaft jedes Mal die Anreise aus Dänemark auf sich nehmen. Besonderer Dank geht an Sebastian, der selbst unter der Woche dafür Sorge trägt, dass unser Goldmann, äh, Goldjunge David auch zu vorgerückter Stunde sicher nach Hause kommt. Dieser Einsatz kann nicht hoch genug gepriesen werden. Denn nicht nur ist unser Captain selbst Teil der arbeitenden Bevölkerung. Vielmehr liegt sein Zuhause – von Davids aus gesehen – ganz am anderen Ende der Stadt, streng genommen sogar außerhalb davon.