Vielleicht kannten Sie Claus Langmann nicht, was natürlich sehr schade ist; aber es sollte Sie nicht davon abhalten, diesen Beitrag zu lesen, weil er Grundsätzliches zur Sprache bringt und ein wenig mehr ist als nur eine kleine Plauderei.
Wann genau ich Claus kennen lernte, kann ich heute gar nicht mehr sagen. Mag sein, dass es zwanzig Jahre her ist, womöglich sogar etwas länger. Irgendwann begegneten wir uns in Eckernförde, wo er beim Schachklub v. 1921 spielte. Ich glaube, Bruno hat uns bekannt gemacht, Bruno Geruschkat, ebenfalls ein liebenswerter Schachfreund, jemand, der im Stillen viel leistet, indem er sich ehrenamtlich engagiert, wofür ihn die Stadt ausgezeichnet hat.
Bruno und Claus bummelten durch die Stadt – durch die gemütliche Fußgängerzone von Eckernförde – hatten aber ein festes Ziel, eine kleine Tee-Probier-Stube in der St.-Nicolai-Straße, nicht weit weg vom Marktplatz und vom Café Heldt, in dem Sie vielleicht schon einmal die leckere Haustorte probiert haben und den vorzüglichen Kaffee. Vor Jahrzehnten war es das Spiellokal des Klubs gewesen, bis der Chef eine Miete verlangte, die der kleine Klub nicht aufbringen konnte und deshalb ins „Bürgerhaus“ umzog, ebenfalls direkt am Markt.
Punkt 11 Uhr betraten wir das Teestübchen, in dem man zahllose Sorten feinsten Tee nicht nur probieren, sondern – natürlich – auch kaufen konnte. Claus und Bruno waren hier schon bekannt, begrüßten Heike Jessen, die Inhaberin, die Zeit hatte für einen kleinen Plausch; denn wir waren im Moment noch die einzigen Kunden.
Zwar gab es keinen Ausschank, aber zum Kosten reichte uns Frau Jessen kleine Tässchen mit erlesenem Früchtetee. Am Fenster standen drei kleine Hocker und ein winziges Bord, uns einladend zum kurzen Verweilen und zu einem ungezwungenen Gedankenaustausch.
Claus wusste, dass ich an der Chronik für den Flensburger Schachklub arbeitete und erzählte, dass er eine ähnliche Arbeit für den Hamburger SK von 1830 bereits fertiggestellt hatte. Schwierig sei es gewesen, weil er die handschriftlichen Eintragungen erst lesbar transkribieren musste.
Wenn er auch seit 1998 bei den Eckernfördern spielte und sich sofort für den Klub engagierte, so blieb er doch den Hansestädtern treu; denn dort war er groß geworden, war bereits als Schüler mit 12 Jahren gleich nach dem Krieg der Jugendabteilung des HSK beigetreten. Wenn man so will, tanzte er ständig „auf zwei Hochzeiten“.
Wir warfen durch das Schaufenster einen Blick auf die Straße, auf der reges Leben herrschte. Aus dem Reisebüro gegenüber kam ein Herr mit einem ganzen Stapel von Prospekten, in ein angeregtes Gespräch mit seiner Frau vertieft. Möglicherweise wollten sie im Herbst nach Griechenland fliegen oder auch nach Madeira, wo man das ganze Jahr über eine fast gleichbleibende angenehme Temperatur hatte, kaum einmal unter 20°, aber auch nie zu heiß.
„Noch ein Tässchen Tee?“ „Ja bitte! Wir hatten doch letzten Samstag so eine Mischung mit allerlei Gewürzen probiert!“ „Ich weiß schon, kommt sofort!“ Wir kamen auf die Homepage unserer Vereine zu sprechen. Claus war der Webmaster des Eckernförder Schachklubs und gab mir letzte Tipps für unsere Seiten im Flensburger SK, die ich bald zügig umsetzte. Bruno nickte zustimmend, betonte, wie wichtig die Homepage der Vereine war und wie viel Arbeit sich Claus mit der Gestaltung machte. Claus aber blieb bescheiden und sachlich, wie ich ihn auch in den folgenden Jahren niemals euphorisch erlebt habe, sondern immer als einen sachkundigen Pragmatiker.
Ein Ehepaar mit zwei kleinen Kindern kam herein, offenbar Touristen, die das Tee-Stübchen noch nicht kannten und sich erst einmal einen Überblick über das vielfältige Angebot verschaffen wollten. Heike Jessen beriet sie, ließ sie dies und das probieren. „Ja, und für unsere Oma zu Hause brauchen wir auch noch ein Mitbringsel. Oh ja, der ist lecker, Oma liebt Früchtetee! Packen Sie ihn bitte als Geschenk ein!“
Irgendwann schaute Bruno auf die Uhr. Die Zeiger rückten auf 12 vor, und es wurde für uns Zeit zu gehen; denn Bruno wollte noch hinüber zur Nicolaikirche, wo er im kleinen Turmcafé mithalf, ein wenig Ordnung zu machen, wenn die letzten Besucher gingen. Wir traten auf die Straße, genossen den Sonnenschein und sogen die frische Seeluft ein, die vom Hafen herüberwehte.
Vom Rathaus am Marktplatz klang das Glockenspiel herüber: „Üb immer Treu und Redlichkeit bis an dein kühles Grab“, nach der Arie des Papageno „Ein Mädchen oder Weibchen“ aus Mozarts „Zauberflöte“.
Unsere Wege trennten sich, Bruno strebte St. Nicolai zu, Claus holte sein Fahrrad – eine Art Rennrad – und fuhr nach Holzhof in der Nähe von Rieseby, ganz in der Nähe von Eckernförde. Ich selbst spazierte zum Café Heldt, wo meine Frau mich erwartete. Hier hatte ich vor vielen Jahrzehnten im Sommer 1962 meine erste Partie gespielt, eine Freundschaftspartie, die aber im Streit endete, weil ich einen Läufer meines Gegners eingesperrt hatte, der keine Aussicht hatte, jemals wieder das Licht der Welt zu erblicken. Allerdings schlug ich die Figur nicht, sodass mein Kontrahent ständig mit dem Elend konfrontiert wurde und sein Blut von Zug zu Zug mehr in ihm aufstieg, bis er die Figuren vom Brett fegte und den Saal verließ. Den Namen meines Gegenübers habe ich längst vergessen, außerdem würde ihn niemand mehr kennen; denn er war damals viel älter als ich und „keine große Nummer“.
Die Tage vergingen schnell, und am kommenden Samstag hockten wir wieder bei Heike Jessen, probierten eine neue Mischung und kamen schnell wieder ins Gespräch. Claus erzählte vom Mannschaftskampf der Eckernförder, von einer Glanzpartie, die Edmund Lomer – sein Name hat nicht nur im Bezirk Nord einen guten Klang – seinem Gegner geliefert hatte. Mit der „Katalanischen“ hatte er einen „sauberen Punkt“ eingefahren und damit den Sieg der Einheimischen sichergestellt.
In den 70igern war Edmund aus Berlin gekommen, hatte sogleich durch seine Spielstärke überzeugt und sich auch ehrenamtlich engagiert. Bruno erzählte uns, dass Edmund sich nicht nur für den Schachklub einsetzte, sondern als Ratsherr eine wichtige Rolle in der Politik der kleinen Stadt spielte.
Claus streifte das Schachgeschehen in der Hansestadt, wobei wir auf Herbert Heinicke zu sprechen kamen, den auch ich kennen gelernt hatte bei unseren Schnell-Schach-Turnieren in Flensburg. Heinicke war seit 1933 Leiter des Niederelbischen Schachbundes gewesen und einer der deutschen Spitzenspieler, hatte 1936 in München zur Olympiamannschaft gehört und hatte bald in der „Nordmark“ die Neugründung von 44 Vereinen verkündet, was eine Verdoppelung der Mitgliederzahl bedeutet hatte. Nicht nur in meinem Verein, dem FSK v. 1876, wird aber Heinickes Rolle in den Jahren 1933-1945 etwas zwiespältig diskutiert.
Als Fünfzehnjähriger hatte Claus im Jahre 1950 an einem Lehrgang in Erinnerung an den so außerordentlich begabten, aber drei Wochen vor Kriegsende gefallenen, erst 21jährigen Klaus Junge im Hamburger SK teilgenommen und dabei auch Klaus Hadenfeldt kennen gelernt, mit dem ihn eine jahrzehntelange Freundschaft verband. Den Lehrgang hatte Herbert Heinicke gemeinsam mit Victor Secula geleitet, initiiert von Emil Dähne, dem 1. Vorsitzenden des HSK.
Als Heike Jessen eines Tages ihr Teestübchen aufgab, waren Bruno und Claus gezwungen, sich nach einer anderen Möglichkeit für ihr Treffen umzuschauen, und entschieden sich für das „Bistro am Gänsemarkt“. Hier fanden alle Schichten ein Zuhause, kehrten Jung und Alt ein, zum Beispiel, um gemütlich zu frühstücken. Es gehörte sozusagen zur Eckernförder Szene.
Wieder war es Samstag. Wieder war es Punkt 11. Fast war alles wie sonst, allerdings „vertauschten“ wir den Früchtetee mit einem Kaffee, den ich selbst ergänzte mit einem kleinen Frühstück, weil ich nüchtern von Flensburg angereist war. Wir saßen draußen unter einem Sonnenschirm und genossen die Frühlingsluft, während sich die Plätze rundherum langsam füllten. Reges Leben herrschte auch gegenüber in der Buchhandlung, wo Kunden als Erstes in den Kästen stöberten, die mit Sonderangeboten lockten.
Eine Weile sprachen wir nichts, hatten nur das Gefühl, dass das Leben doch schön sei und man sich nichts sehnlicher wünschen konnte, als dass es noch lange so bleiben möge, ganz lange. Claus erzählte, warum es ihn von Hamburg hier in den Norden gezogen hatte. Er wollte an der See wohnen, an einem Ort, der Ruhe ausstrahlte und nicht von Touristen überlaufen war. So war er bald nach seiner Pensionierung als Oberregierungsrat bei der Hamburger Gesundheitsbehörde zunächst auf Missunde gestoßen, jenen Ort an der Schlei, wo man mit einer kleinen Fähre übersetzte ans andere Ufer. Eines Tages hatte er sich entschlossen, nach Holzhof bei Rieseby zu ziehen in ein Einfamilienhaus mit Einliegerwohnung. Hier hatte er ebenfalls die See vor der Tür, konnte morgens eine Runde schwimmen und war näher dran an Eckernförde und seinen Schachfreunden im Klub.
Meine Frau winkte herüber von der Fußgängerzone, Bruno gab ihr ein Zeichen, sie möge sich doch zu uns setzen. Wir rückten einen vierten Stuhl heran und bestellten einen weiteren Kaffee. Oft haben wir hier gesessen, aber irgendwann ließ uns die Bedienung schon wissen, dass sie das „Bistro am Gänsemarkt“ nach zwanzig Jahren aufgeben müsse. Sie wissen sicherlich, was uns schon der weise König Salomo aufgegeben hat, wenngleich es nicht sicher ist, ob er das Teestübchen und „unseren“ Bistro gekannt hat.
„Ein jegliches hat seine Zeit!“
Recht hat er gehabt, „der alte Herr“, und deshalb blieb Claus und Bruno wieder nichts anderes übrig, als sich erneut nach einer Bleibe umzuschauen. Da es in Eckernförde so manche Möglichkeit gibt, sich zum Verweilen niederzulassen, schlugen meine Schachfreunde gut hundert Meter weiter in einer Eisdiele ihre Zelte auf. Dort entdeckte ich sie, nachdem ich den Platz am Gänsemarkt verwaist vorfand.
Claus und Bruno hatten sich schon in ein Gespräch vertieft, als ich mit etwas Verspätung dazukam. Sie freuten sich sichtlich über mein Erscheinen, und mir lagen die bekannten Verse von Schiller auf der Zunge „Ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bunde der Dritte!“
Claus erzählte, dass er auf dem Rückweg am Hafen Fisch kaufen wollte und erklärte in allen Einzelheiten, wie er ihn zubereiten würde. Es hörte sich so an, als sei er kein Hobby-Koch, sondern ein Profi. Den frisch vom Kutter geholten Fisch wollte er dünsten, weil es die schnellste, fettarme und gesunde Zubereitungsart sei. Und da der Fisch – womöglich Dorsch – im eigenen Saft garte, blieben alle wertvollen Nährstoffe erhalten. Dazu benutzte er einen breiten, flachen Topf mit einem Deckel. Kleingeschnittenes Gemüse wollte er in Butter anbraten und Wein hinzufügen. Dass er schließlich den Fisch ordentlich würzen würde, verstand sich von selbst. Interessiert hörten wir zu, sodass uns fast das Wasser im Mund zusammenlief, aber dann schwenkten wir ein auf unser eigentliches Thema, die bevorstehende Schachwoche in Flensburg, zu der wir auch Georgios Souleidis erwarteten, der eine Simultanvorstellung geben würde. Claus kannte den Internationalen Meister vom Hamburger Schachklub v. 1830 und meldete sich zusammen mit Bruno für das Simultanturnier an. Aber dann kam alles anders; denn Claus ging es nicht gut.
Als wir ein paar Wochen später wieder in der kleinen Eisdiele beisammensaßen, hatte sich Claus wieder etwas erholt. Er saß bereits mit Bruno bei einem kleinen Eisbecher und einer Tasse Kaffee, verlor kein Wort über seinen Gesundheitszustand, sondern diskutierte mit uns über die Turnierordnung des Bezirks, die man neu fassen sollte.
Auf Turnierpartien bereitete er sich schon lange nicht mehr vor, meinte, dass es keinen Sinn hätte, sich zu sehr mit Eröffnungstheorie zu beschäftigen. Interessanter waren für ihn das Mittelspiel und das Endspiel. Ich erzählte ihm, dass er auf einer Linie lag mit Dr. Pfleger, und er lachte, weil sie trotz des vielfachen Klassenunterschieds etwas gemeinsam hatten.
Claus liebte im Schach keine Experimente mehr, mag sein, dass dies in seiner „Sturm-und-Drang-Zeit“ anders gewesen ist. Ohne Zeit für die ersten Züge zu verlieren, warf er in unseren Partien mit Weiß „den Colle“ aufs Brett, dessen Aufbau man hier noch rudimentär erkennen kann an den Bauern c3/d4 und dem Läufer auf d3. Auf dieser älteren Aufnahme – wohl zu erkennen an den guten alten Garde-Uhren ging es Claus gesundheitlich noch besser, und seine Körperhaltung lässt vermuten, dass er fern jeder Hektik in sich ruht.
Im November 2020, als sich Claus‘ Gesundheitszustand zusehends verschlechtert hatte, holte sein Sohn ihn nach Hamburg-Volksdorf, womit gleichzeitig unsere langjährigen Treffen ein Ende fanden. Bruno erzählte mir, wie er telefonisch mit Claus den Kontakt aufrecht erhielt und dass eine Rückkehr nach Eckernförde nicht mehr ins Auge gefasst werden konnte.
Am 10. März 2021 schloss Claus mit 86 Jahren für immer die Augen, ein liebenswerter Schachfreund, der das Schachleben außerordentlich bereichert hat und auch mir unvergessen bleiben wird.
Der Jour fixe in Eckernförde war undenkbar ohne Claus‘ Schachfreunde Bruno Geruschkat und Edmund Lomer, zu denen ich oft – angereist aus Flensburg – hinzukam.
Wir alle, nicht nur die Schachfreunde in Eckernförde und Hamburg, werden Claus in guter Erinnerung behalten.
Jürgen Nickel